Leben im SLW: Anker im Alltag – wie individuelle Begleitung Kindern des Josefsheims Wartenberg hilft
Wartenberg. Sie geben Halt, wenn Kinder ihn am dringendsten brauchen: Die Schul- und Individualbegleitung des Josefsheims Wartenberg ermöglicht Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf Teilhabe und Entwicklung in Kindergarten, Schule und Hort. Ein Angebot, das aus einem komplexen Einzelfall entstand und heute nicht mehr wegzudenken ist. Martin Hagner, Gesamtleiter des Josefsheims Wartenberg, erinnert sich noch genau, warum er 2018 in einer Kindergartengruppe der Einrichtung zum ersten Mal den Bedarf für eine Individualbegleitung sah – und sie schließlich einsetzte: Stefan (Name von der Redaktion geändert) war damals vier Jahre alt – und in seiner Lebenswelt der absolute Mittelpunkt. Die häusliche Situation war geprägt von Überforderung und Orientierungslosigkeit. Die psychisch schwer kranke Mutter klammerte sich an ihn, der Vater war überfordert. So wurde der Junge sehr dominant, Regeln gab es keine, Grenzen kannte er kaum. Ohne eine feste Bezugsperson an seiner Seite wäre seine Anwesenheit in der Kindergartengruppe überhaupt nicht möglich gewesen. Die Individualbegleitung war der entscheidende Schritt, damit Stefan überhaupt eingewöhnt werden konnte.
18 Kindern Teilhabe ermöglichen
Aus Stefans Einzelfall entwickelte sich Schritt für Schritt ein festes Angebot des Josefsheims Wartenberg, das kontinuierlich wuchs. Heute werden rund 15 bis 18 Kinder mit Individual- und Schulbegleitung betreut, tatsächlich wäre der Bedarf noch deutlich höher. Die Gründe sind vielfältig: Verhaltensauffälligkeiten, Autismus, Entwicklungsverzögerungen oder geistige und körperliche Einschränkungen. Meist aber geht es um Kinder, die in einer großen Gruppe nicht zurechtkommen, zumindest nicht ohne Hilfe. „Die Aufgabe unserer Betreuer ist es, die Teilhabe am Unterricht oder im Kindergarten zu ermöglichen. Schul- und Individualbegleiter/innen sind aber keine Nachhilfelehrer, nicht dazu da, die Noten zu verbessern“, erklärt Cornelia Mossyrsch, die pädagogische Bereichsleiterin Betreutes Wohnen und ambulante Dienste im Josefsheim.
Mit Empathie Überforderung entgegenwirken
Dass die Einrichtung der Individual- und Schulbegleitung sinnvoll und notwendig ist, das liegt für Hagner und Mossyrsch klar auf der Hand: „Wir erleben das oft: Die Begleitung wirkt sehr schnell. Das Kind kann besser ankommen, auch für die Gruppe ist es eine spürbare Entlastung, weil es weniger Störungen und Unruhe gibt. Gerade in Kippsituationen hilft es enorm, wenn jemand da ist, der frühzeitig reagiert und das Kind kurz aus der Gruppe heraus nimmt, Ruhe einkehren lässt.“ Schul- und Individualbegleiter/innen können in herausfordernden Momenten gezielt deeskalieren. Dafür braucht es viel Fingerspitzengefühl, Empathie und das Eingehen auf die individuelle Situation. „Meist geht es auch darum, dem Kind zu zeigen, wie es mit der überfordernden Situation anders umgehen könnte und alternative Handlungswege aufzuzeigen“, erklärt Mossyrsch. „Von Lehrkräften und Erzieherinnen kommt dann direkt die Rückmeldung: Wir sind so froh, dass Sie da sind.“
Aufgabe übernehmen vermehrt Quereinsteiger
Die Menschen, die heute die Aufgabe der Schul- oder Individualbegleitung übernehmen, kommen oft aus ganz unterschiedlichen Berufen. Früher gab es viele Bewerbungen, oft mit pädagogischem Hintergrund. Heute ist es deutlich schwieriger, Personal zu finden. „Für Schul- und Individualbegleitungen werden in der Regel nur Hilfskräfte bezahlt, weil pädagogisches Fachpersonal schlicht nicht vom Bezirk rückfinanziert wird“, bedauert Mossyrsch. Deshalb übernehmen mittlerweile auch Quereinsteiger wie Mütter nach der Elternzeit, Handwerker oder Leute aus anderen Bereichen diese verantwortungsvolle Tätigkeit. Eine heil- oder sonderpädagogische Ausbildung bringen sie in der Regel zunächst nicht mit.
Das notwendige Wissen erwerben sie „learning by doing“ und bei internen Fortbildungen. Alle zwei Wochen trifft sich das Team, zweimal im Jahr gibt es verpflichtende Fortbildungen. Dabei geht es vor allem darum, den individuellen Umgang mit Kindern zu erlernen, die emotional-soziale Unterstützung benötigen. Vor dem ersten Einsatz stimmen sich alle Beteiligten ab: Eltern, Einrichtung und Begleitperson. Erst wenn alle das Gefühl haben, dass es funktionieren könnte, beginnt der Einsatz: „Niemand bekommt einfach jemanden vorgesetzt, und natürlich muss auch die Chemie zwischen Betreuer und dem Kind stimmen“, verdeutlicht Mossyrsch.
Herausfordernder Alltag – auch administrativ
Der Alltag ist für die Begleiter/innen und auch für Cornelia Mossyrsch, die deren Einsätze koordiniert, herausfordernd. Nicht nur in der Schule oder dem Kindergarten, sondern auch auf administrativer Ebene: Die Verträge sind an das Kind gebunden, Ausfallzeiten einkalkuliert. „Das ist kein 08/15-Job, es braucht Flexibilität – auf allen Seiten. Denn es kann jederzeit morgens der Anruf kommen: Das Kind ist krank oder kommt heute nicht in die Schule.“ Bezahlt und vom Bezirk gefördert werden aber nur die Stunden, in denen das Kind tatsächlich betreut wird. Fortbildungen, Supervision, Teamsitzungen ‒ all das trägt der Träger selbst.
Der Druck wächst. Der Bedarf steigt weiter, geeignete Kräfte sind immer schwerer zu finden. Auch die Finanzierung wird schwieriger, Kostenträger bewilligen restriktiver. Aus Überzeugung bleiben Hagner und Mossyrsch trotzdem dabei: „Teilhabe ist mehr als ein Konzept. Wir versuchen, Kinder in ihrer ganzen Individualität zu begleiten, auch wenn das manchmal bedeutet, Wege zu gehen, die nicht in ein klassisches Raster passen. Wir wollen, dass die Kinder integriert werden und so ein besseres Leben führen können“, bekräftigt Hagner. „Wenn sich ein Kind so weit stabilisiert, dass es irgendwann keine Begleitung mehr braucht ‒ dann war es das alles wert.”
Andrea Obele